#1

Neuer Prolog für meinen Krimi, 1. Teil

in Auszüge aus unseren Büchern 20.01.2024 16:19
von Bree • Federlibelle | 4.138 Beiträge | 16505 Punkte

1982
„Gut gemacht. Du kannst wieder auf deinen Platz gehen“, sagte Herr Siemen.
Er tat es, doch auf dem Weg stolperte er über einen Fuß und fiel der Länge nach auf den mit Linoleum ausgelegten Boden. Alle lachten, und in seinem Magen bildete sich ein heißer Klumpen aus Wut. Er blickte auf und bemerkte den hämischen Blick von Florian, der sein Bein längst wieder zurückgezogen hatte.
„Hast du was verloren?“, fragte er, was ebenfalls mit allgemeinem Gelächter quittiert wurde.
Er rappelte sich hoch und stand auf, ging schweigend und mit brennenden Wangen zu seinem Platz und setzte sich. Herr Siemen sah Florian zwar mit finsterer Miene an, sagte aber nichts, denn in dem Moment erklang das Bimmeln der Schulglocke und alle packten schnellstmöglich ihre Sachen ein. Füller wurden in Federmappen gesteckt, Hefte und Bücher zusammengeschoben und in die Schulranzen gestopft. Sätze flogen hin und her, hier und da lachte jemand. Herr Siemen war schon weg.
Er räumte ebenfalls seine Sachen ein und stand auf. Sein Herz klopfte schneller. Dies war der schlimmste Teil seines Schultags. Vom Klassenzimmer bis zum Bus konnte viel passieren. Er hatte bereits alles versucht; als Erster lossprinten, oder bummeln, bis außer ihm niemand mehr im Raum war, in der Menge verschmelzen – es war alles ohne Erfolg geblieben.
Heute verließ er mit mehreren anderen das Klassenzimmer, doch diejenigen, die er fürchtete, waren schon weg. Warteten draußen auf ihn.
Während er den Schulhof überquerte, blieb er unbehelligt, doch kaum hatte er die Straße erreicht, sah er sie. Fünf Jungen. Florian, Sönke, Thomas, Carsten und Frank. Sie blickten ihm entgegen, dieses gewisse Funkeln in den Augen. Wie jeden Tag.
Langsam, den Kopf gesenkt, machte er sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Dafür musste er an ihnen vorbei.
„He“, rief Carsten, „da kommt ja unser Kleiner. Hast dich wieder hübsch beim Siemen eingeschleimt.“
Er versuchte, ihn zu ignorieren, doch Carsten stellte sich ihm in den Weg. Er war mindestens einen Kopf größer und hatte breite Schultern, während er selbst die Figur eines Achtjährigen hatte. Dabei war er fast vierzehn.
Florian und Sönke stellten sich links und rechts von Carsten auf und bauten damit eine für ihn unüberwindbare Mauer.
Sönke stieß die flache Hand gegen seine Schulter, so kraftvoll, dass er ins Wanken geriet.
„Blöder Streber“, sagte er und schubste ihn noch einmal. Stärker diesmal. Er verlor das Gleichgewicht. Seine Schultasche, die er über einer Schulter trug, landete ebenso wie er auf dem Bürgersteig. Seine Hände, mit denen er sich abzustützen versuchte, brannten, als sie über den Asphalt schrammten.
„Seht ihn euch an!“, höhnte Carsten. „Wann lässt du dir endlich deine Segelohren anlegen? Man könnte dich glatt mit Micky Maus verwechseln. He, der Name passt perfekt zu dir. So ein Winzling, aber Riesenohren.“
Die anderen grölten vor Lachen und wiederholten den neuen Spitznamen, skandierten ihn regelrecht. „Micky Maus! Micky Maus!“
Er kam auf die Füße und hob seinen Ranzen auf. Der Bus näherte sich. Sie ließen ihn an sich vorbeigehen, doch einer trat ihm noch von hinten in die Kehrseite. Er reagierte nicht, sondern beeilte sich, zum Bus zu kommen. Die anderen folgten gemächlicher, riefen ihm „Micky Maus!“ und andere Kommentare hinterher, lachten ihn aus.
Er stolperte die Stufen des Busses hinauf und setzte sich auf den noch leeren Einzelplatz hinter dem Fahrer. Hier war er am sichersten. Hier ließen sie ihn in Ruhe.

Bei der Haltestelle am Stadion stieg er aus. Frank und Thomas waren als Einzige noch im Bus, sie saßen weit hinten, quatschten über irgendwas und beachteten ihn nicht mehr. Er atmete auf, als der Bus mit ihnen an ihm vorbeifuhr.
Seine Mutter war noch nicht zu Hause, kam erst am späten Nachmittag von der Arbeit. Sie war für eine Speditionsfirma tätig, arbeitete dort im Büro. Wie üblich kümmerte er sich selbst um sein Mittagessen. Kochte sich ein paar Nudeln und aß sie mit Ketchup vor dem Fernseher im Wohnzimmer, ehe er in sein Zimmer ging, um seine Hausaufgaben zu machen.
Deutsch, Mathe, Physik, Geschichte. Das meiste ging ihm leicht von der Hand, nur Geschichte fand er grässlich. Er liebte Zahlen, aber historische Daten konnte er sich ums Verrecken nicht merken.
Er erledigte die Aufgaben, packte die Schulsachen zurück in den Ranzen, legte eine Platte von The Cure auf und warf sich auf sein Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Zum Sound von „Boys don’t cry“ starrte er an die Decke, dachte an den neuen Spitznamen, den er jetzt vermutlich täglich hören würde, und versuchte, die aufkommenden Tränen zurückzudrängen. Jungen weinen nicht, sang Robert Smith, und obwohl er nicht genug Englisch konnte, um den gesamten Text des Liedes zu verstehen, diesen Satz kapierte er mühelos.
Als die LP am Ende angelangt war, stand er auf und hob behutsam den Arm von der Platte. Dann schloss er den Deckel des Plattenspielers und ging in die Küche. Dort warf er einen prüfenden Blick in den Kühlschrank und notierte im Geiste, was er einkaufen musste. Brot, Margarine, Mamas Lieblingskäse, Gewürzgurken, Tomaten, Leberwurst. Und Äpfel waren auch keine mehr da.
Dann nahm er das Portemonnaie aus der Küchenschublade, ergriff das Einkaufsnetz und verließ die Wohnung. Eine Jacke brauchte er nicht. Es war ein herrlicher Frühsommertag mit fast 25 Grad. Seine Klassenkameraden waren vermutlich am Strand oder im Freibad.
Gegen fünf war er zurück. Im Treppenhaus traf er Inge Barckmann, die gerade ihre Post aus dem Briefkasten holte.
„Moin, Frau Barckmann“, sagte er.
Sie wandte sich ihm zu, einige Briefe in der Hand. „Moin, mien Jung“, grüßte sie zurück. „Warst du einkaufen?“
Er nickte und schickte sich an, die Treppe hinaufzusteigen.
Sie hielt ihn am Arm fest. „Ich habe gestern einen Marmorkuchen gebacken. Möchtest du ein Stück? Den kannst du morgen mit in die Schule nehmen.“
Sein Gesicht hellte sich auf. „Danke. Das würde ich gern.“
Sie schaute ihn lächelnd an. „Kannst ihn dir gleich abholen.“
Er bedankte sich nochmals, versprach, in ein paar Minuten zu kommen, und erklomm mit dem vollen Einkaufsnetz die Stufen in den ersten Stock.

Weiter mit dem zweiten Teil.


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#2

RE: Neuer Prolog für meinen Krimi, 1. Teil

in Auszüge aus unseren Büchern 22.01.2024 12:34
von Gini • Federlibelle | 1.761 Beiträge | 3591 Punkte

@Bree ich zäum das Pferd von hinten auf. Hab erst den 2.Teil gelesen, weil ich nicht wusste, dass es auch einen 1.gibt.
Ich finde es super, dass du einen Thriller schreiben wirst. Ich liebe Thriller. Dass Andresen so ein Rüpel war als Kind, hätte
ich nicht gedacht. Irgendetwas wird ihn dann wohl umkrempeln. Vielleicht kommt das warum ja, in deinem Buch vor.
Das mit dem "Er", stört überhaupt nicht. Ich finde eher, dadurch ist der Prolog sogar etwas geheimnisvoll.
Bei vielen Thrillern wird der Täter als Er betitelt. Falls in deinem Buch auch Er der Täter ist, davon gehe ich aus, würde man ja gleich wissen, wer Er ist. Das funktioniert ja nicht.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#3

RE: Neuer Prolog für meinen Krimi, 1. Teil

in Auszüge aus unseren Büchern 22.01.2024 13:05
von Bree • Federlibelle | 4.138 Beiträge | 16505 Punkte

Liebe @Gini

hab vielen Dank für dein Feedback. Ich werde das mit dem Er wohl noch ändern, denn ich habe beschlossen, den Teil nicht als Prolog, sondern als Rückblende einzufügen. Bin noch dabei, weiter daran zu schreiben, denn die Rückblende soll den größten Teil des Lebens meines Antagonisten beschreiben. Zeigen, wie er der wurde, der er ist.
Das gilt in gewissem Sinne auch für Carsten Andresen. Er war ein Halbstarker mit 14, schon damals groß und kräftig, und Schwächeren gegenüber eben etwas gemein, wie viele in dem Alter, insbesondere, wenn sie in Rudeln auftreten.

Als Erwachsener hinterfragt er natürlich sein damaliges Verhalten und schämt sich dafür. Diese Erkenntnis wird sich auf sein weiteres Leben auswirken, aber wie, erzähle ich noch nicht.

Ich bin selbst neugierig, wie sich die ganze Geschichte noch entwickeln wird. Im Augenblick bin ich wie im Schreibrausch und genieße es!

LG
Bree


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#4

RE: Neuer Prolog für meinen Krimi, 1. Teil

in Auszüge aus unseren Büchern 22.01.2024 13:46
von moriazwo • Federlibelle | 306 Beiträge | 1109 Punkte

@Bree
Dieser Prolog macht jedenfalls Appetit auf mehr. Was zunächst wie ein "einfaches" seelisches und körperliches Mobbing daherkommt, wirft jedefalls gewisse Schatten voraus. Allein die Tatsache, dass man durch die Vermeidung des Namens die Identität dess Gemobbten nicht kennt, wohl aber seine Statur, Intelligenz und natürlich seine Ängste, darf man vermuten, dass bei diesem Jungen irgendwann der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen wird, und er seinen früheren Peinigern in der einen oder anderen Weise alles heimzahlen wird.
Gleichzeitig kommt "er" sympathisch rüber und man ergreift unwillkürlich seine Partei. Man erwartet im Grunde, dass man mit "ihm" den späteren "Bösen" kennengelernt hat, wobei allerdings hier eben nicht nur schwarz und weiß existieren, sondern jede Menge Grautöne. "Er" wird sein, was man aus ihm gemacht hat ... So jedenfalls entwickelt sich meine Erwartungshaltung nach der Lektüre dieses Prologs (Teil 1)
Wie immer ist der Text sehr gut, flüssig und lebendig geschrieben. Vielleicht eines der nächsten Bücher von dir, das ich kaufen werde?


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#5

RE: Neuer Prolog für meinen Krimi, 1. Teil

in Auszüge aus unseren Büchern 22.01.2024 15:42
von Bree • Federlibelle | 4.138 Beiträge | 16505 Punkte

Lieber @moriazwo

vielen Dank für dein Feedback. Offenbar konnte ich bei dir genau die Reaktion hervorrufen, die ich mir erhofft hatte. Mitgefühl mit einer Person, obwohl man ahnt, dass es sich um jemanden handelt, der später noch seine finsteren Seiten zeigen wird.
Und damit liegst du natürlich goldrichtig. Ich bin froh, dass du die 'Grauzonen' thematisierst, denn es ist ja häufig so, dass eine Person nicht nur gut oder nur schlecht ist, sondern viele verschiedene Seiten hat. Je nachdem, welchen Einflüssen man ausgesetzt ist, tendiert man mehr in die eine oder in die andere Richtung. Das versuche ich auch in meinen Büchern darzustellen.

Zitat von moriazwo im Beitrag #4
Vielleicht eines der nächsten Bücher von dir, das ich kaufen werde?

Das würde mich jedenfalls sehr freuen! Es handelt sich um meinen nächsten Krimi mit dem Arbeitstitel "Die Friedhofsvilla".

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
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