#1

"Aus dem Rahmen" - Generationenanthologie des Baltrum-Verlags

in Veröffentlichungen unserer Mitglieder 09.05.2021 10:09
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.139 Beiträge | 2920 Punkte

Hallo, ich will euch meinen Beitrag nicht vorenthalten:

Aus dem RahmenMarten Petersen

Es war eine helle Mondnacht. Das altehrwürdige Herrenhaus derer zu Holstenberg reckte sich hinter uralten Eichen in die Höhe. Gleichzeitig wirkte es klein und geduckt vor dem hohen Abendhimmel. Die Familie zu Holstenberg hatte sich längst zur Nachtruhe begeben. Es war still in den alten Gemäuern. Das große Wohnzimmer lag im nächtlichen Dunkel, Wände und Fußböden waren teilweise vom fahlen Mondlicht beschienen, das durch die Fenster fiel. Eine ganze Wand war mit Familienfotos bedeckt, eine Art Ahnengalerie hatten die Bewohner zusammengestellt. Die alte Pendeluhr tickte vor sich hin, der Minutenzeiger zuckte und schob sich unendlich langsam voran. Bald würde auch er genau nach oben, auf die zwölf, zeigen. Dann war es Mitternacht. Beim letzten Schlag der Uhr stieg Maja aus dem Rahmen und reckte die steifen Glieder. Zu lange hatte sie in unveränderter Haltung ohne jegliche Bewegung im Bild verharrt. Sie war aufgeregt, nahm sie doch zum ersten Mal an diesem Familientreffen der anderen Art teil. Sie stieß fast mit ihrer Tante zusammen, die ebenfalls gerade in die Stube trat. Auch in die anderen Bilderrahmen an der Wand kam Bewegung: Frauen rafften ihre Kleider zusammen, Kinder tollten mit einem Hurra ins Zimmer, Männer stiegen steif hinunter. Alle reckten und dehnten sich, bevor sie sich einander zuwandten.
»Guten Morgen, Tante Luise. Ich freue mich, dich zu sehen.« Majas Gesicht strahlte. Sie ging auf ihre Tante zu und umarmte sie. Ihrem Onkel Johannes, dem Mann an der Seite von Luise, streckte sie die Hand entgegen. Vor ihm hatte sie immer Respekt gehabt, und so war es auch heute noch.
»Geht es dir gut, Maja, und oh, nun sehe ich es: Du bist schwanger. Das ist ja schön. Ist alles in Ordnung, bist du gesund? Es wird ganz sicher ein Junge, das spüre ich! Wer ist denn der glückliche Vater, kenne ich ihn? Du musst ihn mir unbedingt vorstellen.«
Maja kam gar nicht dazu, zu antworten, sie kannte den unaufhaltsamen Redeschwall ihrer Tante, besonders wenn es um die Familie ging.
Lächelnd wandte sie sich ab. »Ich gehe in die Küche und mache mich etwas nützlich.«
»Noch ist dein kleiner Jonas das Nesthäkchen der Familie«, begrüßte Maja ihre Schwester Bianca.
»Du kannst mir helfen und die Käseplatte dekorieren«, antwortete Bianca, »Wie viele Gäste sind denn schon da?«
Maja zählte auf: Die Eltern und deren drei Geschwister, die Großeltern und Urgroßeltern, einige Groß- und Urgroßonkel und -tanten, dazu viele Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten. Insgesamt waren sie fast 50 Personen. Schade, dass nicht die ganze Familie anwesend sein konnte. Entweder waren sie zu früh geboren, um überhaupt die technische Möglichkeit der Fotografie gehabt zu haben, andere waren überhaupt nicht in die Ahnengalerie aufgenommen worden oder aber aus verschiedenen Gründen wieder von dort verschwunden. Einige der Jüngsten waren dem technischen Fortschritt zum Opfer gefallen, es existierten nur Digitalfotos in irgendwelchen Dateien.
Maja und Bianca gingen ins Wohnzimmer zurück. An der Tür blieben sie kurz stehen und bewunderten die Vielfalt der verschiedenen Kleidungsstücke, Frisuren, Schminktechniken oder Schuhe, ein Spiegelbild der Mode aus mehr als 150 Jahren. Aber auch beim Hinhören wurde die lange Zeitspanne deutlich. Der moderne Slang der heutigen Zeit mischte sich mit der gestelzten Ausdrucksweise des 19. Jahrhunderts oder der militärisch knappen Sprache aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schwerer Schmuck aus der Kaiserzeit konkurrierte mit der Leichtigkeit des Jugendstils oder dem Strass der Jetztzeit. Maja selbst trug ein bauchfreies Top, dazu einen sehr kurzen Jeansrock. Ihr Urururgroßvater dagegen trug einen grauen Anzug, dazu einen steifen Hemdkragen, die goldene Uhr hing an einer Kette. Er war so alt geworden, dass man in seinem Gesicht die Historie und die Geografie von fast hundert Jahren ablesen konnte. Weitere hundert Jahre hatte er nun schon auf dem alten Foto verbracht. Ihre Großmutter trug ein dunkelgrünes Hängerkleid, dazu eine rosa Federschlange um den Hals, ein kauziges Etwas als Hut. In den 'roaring twenties', der Zeit des Charleston und der Cabarets im Berlin zwischen den Weltkriegen, war sie eine beliebte Tänzerin und Sängerin gewesen. Sie hatte ihr Leben gelebt, und das Leben hatte seine Spuren hinterlassen. Wie wohl ihr eigenes Kind gekleidet sein würde, wenn es später einmal an diesen Treffen teilnehmen würde? Sie lächelte bei diesem Gedanken.
Der Ururgroßvater Friedrich Wilhelm erhob sich und verschaffte sich mit einem vernehmlichen Räuspern Aufmerksamkeit. Die Gespräche verstummten, die Umherstehenden setzten sich auf ihre Plätze, alle wandten sich dem Chef der Familie zu. Er war zwar nicht der Älteste der Runde, seine Frau war zwei Jahre älter, aber als Mann stand ihm nach altem ungeschriebenem Recht der Vorsitz des Familientreffens zu. Aus den Augenwinkeln sah er sehr wohl, dass Maja und Bianca die Köpfe zusammen steckten, er wusste, dass sie das Männerprivileg stark anzweifelten, aber darum kümmerte er sich nicht. Der Alte zog nun mit deutlicher Geste die goldene Uhr aus der Westentasche, ließ den Deckel aufspringen und schaute eingehend auf das Zifferblatt.
»Es ist soweit«, sagte er, schloss die Uhr und steckte sie wieder ein. Erst dann begann er seine Rede. Wie in jedem Jahr begrüßte er alle Anwesenden, vor allem die neu Hinzugekommenen. Er bedauerte, dass der Onkel Jakob nicht mehr dabei war, durch die Unachtsamkeit der Hausbewohner, die zu seinem Verschwinden von der Bilderwand beigetragen hatten. Andererseits lobte er die Familie, die seit Jahrhunderten in diesem Haus wohnte. Sie hatte vieles verändert, da ja Gewohnheiten und Moden wechsel- ten. Trotzdem hätten alle Generationen den Brauch beibehalten, Fotos zu sammeln und damit die Wände des Hauses schmückten. So seien nun an die hundert Fotos, von alten Daguerreotypien bis hin zu modernen Abzügen digital erstellter Fotos zusammen gekommen. Geschützt hinter Glas, gehalten von alten hölzernen Rahmen oder neuen aus Kunststoff überdauerten sie die Zeit. Und heute Nacht sei es nun mal wieder so weit, dass sie alle für exakt zwei Stunden ins Leben zurückkehren und ihre Rahmen verlassen konnten. Daher sei es nun an der Zeit, das Essen einzunehmen. Er wünschte allen lebhafte Gespräche und hoffte, dass die Jungen von den Alten lernen würden, mahnte aber auch die Alten, von den neuen Erkenntnissen der Jungen zu profitieren. Für den Zeitsprung zurück in die Rahmen wünschte er viel Glück. Für die einen seien es nur ein paar Monate zurück, andere wie er hätten eine Zeit von 170 Jahren zu überbrücken.
»Lernt aus unserer Wanderung durch Zeit und Raum, durch Generationen und Regionen. Auch wenn vor allem die Jüngeren unter uns eine gute Schulbildung genossen, ja sogar studiert haben, so bringt die Erfahrung der Jahrhunderte vielleicht mehr als alles Wissen in Schulen und Universitäten!«, schloss er seine Rede.
Der Alte nahm den Applaus für seine wohlgesetzten Worte entgegen, nickte allen zu und sprach einen Toast auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus.
Majas Tischnachbarin stieß ihr in die Seite und raunte ihr ins Ohr: »Von wegen, dass wir deinen Großonkel Jakob vermissen. Ich bin froh, dass er endlich verschwunden ist. Schon früher habe ich unter seiner Herrschaft in unserer Ehe leiden müssen. Und dann musste ich noch Jahr für Jahr neben ihm hängen. Du glaubst gar nicht, wie indignierend das für mich war. Als beim Frühjahrsputz das Bild von der Wand gefallen ist und Glas und Rahmen zerbrachen, war ich ihn endlich los. Ich hoffe, er kommt nicht wieder zurück!«
Maja kicherte und zwinkerte der Großtante zu. Diese nestelte vor Aufregung an der runden Brosche, die den hochgeschlossenen Kragen der weißen Bluse hielt. Plötzlich hielt sie inne, betrachtete zuerst die Schnalle an Majas Gürtel, befühlte dann wieder ihre Brosche. Tatsächlich, das war sie!
»Oh Maja, ich freue mich. Es ist so gekommen, wie ich es mir gewünscht habe. Immer die jüngste Tochter sollte meine Brosche erben, und nun hast du sie.«
»Kann mir mal jemand diese halbnackte Göre vorstellen? Die habe ich hier ja noch nie gesehen.«
Maja zuckte zusammen, als sich zwei schwere Hände auf ihre Schultern legten. Es war ihr Urgroßvater in der Uniform der kaiserlichen Marine. Er war ein äußerst stattlicher Mann, groß und von kräftiger Figur, gerade im Rücken, als habe er einen Handstock verschluckt.
»Aber Julius, das ist doch unsere Urenkelin Maja, Marias Tochter«, kam es vom anderen Ende der langen Tafel.
»So? Na, Mädchen, du machst es den Männern aber leicht, so wie du dich kleidest. Das war zu unserer Zeit noch anders, Korsett und tausend Schnüre. Verflixt, war das immer eine Arbeit, bevor ... Ach, ich beneide die jungen Männer von heute.« Sein Lachen dröhnte durch den Raum.
Inzwischen hatten sich an der langen Tafel rege Gespräche ergeben. Der kleine Jonas, im Jahr 2005 geboren, fühlte sich auf dem Schoß seiner Ururururgroßmutter Johanna wohl und spielte fasziniert mit ihrem Monokel. Johanna war etwa 200 Jahre älter als Jonas. Weitere Gesprächsgruppen hatten sich im Zimmer zusammengefunden. Sie standen am Klavier oder am Fenster, an Gesprächsstoff fehlte es nicht, denn alle wussten, dass die Zeit sehr knapp bemessen war. Wenn es zwei Uhr schlug, mussten sie wieder für 365 Tage an ihren angestammten Platz, steif und bewegungslos unter Glas, in ihrem Rahmen.
Schließlich war es soweit: Sie verabschiedeten sich voneinander mit Umarmungen und tiefen Verbeugungen, mit Wangenküsschen und Knicks, je nach der Art der Zeit, aus der sie kamen. Die ersten kletterten bereits in den Rahmen, nahmen ihren Platz und die vorbestimmte Haltung ein. Andere hatten es nicht ganz so eilig, saßen noch auf dem Rahmenholz und winkten zum Abschied in den Raum, aber auch sie mussten ihren Platz einnehmen. Maja half ihrer Schwester Bianca, Jonas in den Rahmen zu heben. Nach ein paar Minuten war der Spuk vorbei, keiner war mehr im Wohnzimmer zu sehen. Der Tisch war abgeräumt, die Stühle zurückgestellt. Auch der Küche sah man den nächtlichen Besuch nicht an.
Keiner der Bewohner würde morgen etwas bemerken, oder? Doch da lag noch etwas auf dem Tisch, was nicht dorthin gehörte: Die goldene Taschenuhr des alten Herrn, aber es war nach zwei Uhr.

Angefügte Bilder:
Sie haben nicht die nötigen Rechte, um die angehängten Bilder zu sehen

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Bree findet das Top
zuletzt bearbeitet 09.05.2021 11:00 | nach oben springen

#2

RE: "Aus dem Rahmen" - Generationenanthologie des Baltrum-Verlags

in Veröffentlichungen unserer Mitglieder 09.05.2021 10:11
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.139 Beiträge | 2920 Punkte

Tut mir leid, beim Hochladen wird meine Formatierung (Absätze usw.) zerstört.


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#3

RE: "Aus dem Rahmen" - Generationenanthologie des Baltrum-Verlags

in Veröffentlichungen unserer Mitglieder 09.05.2021 11:04
von Bree • Federlibelle | 4.181 Beiträge | 16645 Punkte

Lieber @Yggdrasil

ich habe das mit der Formatierung mal in Ordnung gebracht, damit sich deine Geschichte besser lesen lässt.

Es wundert mich nicht, dass deine originelle Idee den Weg in die Antho gefunden hat. Und durch die liegengelassene Uhr bleibt es der Phantasie des Lesers überlassen, die Geschichte eventuell weiterzuspinnen.

Du hast die verschiedenen Epochen durch Sprache, Kleidung, Schmuck etc. gut rübergebracht. Ich frage mich, was geschehen wäre, wenn plötzlich einer der noch lebenden Hausbewohner zufällig in dieses Familientreffen geplatzt wäre ...

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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